„Durch meine Hand wird keine Frau zur Witwe, und kein Kind zum Waisen“. Das waren die Worte Ernst Reiters, als er im Jahr 1938 in die Wehrmacht eingezogen werden sollte. Polizisten waren bei seinem Arbeitsplatz aufgetaucht und wollten ihn zwingen, ein Soldbuch – den Ausweis eines Soldaten – zu unterschreiben. Ernst Reiter weigerte sich. Er war Zeuge Jehovas, damals Bibelforscher genannt, und wollte aus religiösen Gründen nicht in den Krieg ziehen. Als Folge wurde er inhaftiert – erst in Graz, dann in Grafenwöhr, und schließlich im Konzentrationslager Flossenbürg.
Ein Generationenschicksal
Seine Geschichte erzählt heute seine Tochter, Ingrid Portenschlager. Sie ist Mitglied im Verein „Lila Winkel“ – benannt nach dem Kennzeichen, das Bibelforscher in den Konzentrationslagern tragen mussten. Auch Ingrids Vater trug einen lila Winkel. Die Mission des Vereins ist es, nicht nur Überlebenden zu helfen, sondern auch ihre Geschichten für die Nachwelt zu erhalten – als Mahnmal, und als Lehre.
Ernst Reiter überlebte das Konzentrationslager. Nach viereinhalb Jahren wurde er durch amerikanische Soldaten befreit. Aber die Gräueltaten und das Leid, das er während seiner Inhaftierung erleiden musste, prägten ihn. Ingrid Portenschlager erzählt, dass die Familie keinen Krümel Essen verschwenden durfte. Sie sollten dankbar sein, dass sie überhaupt satt werden dürften. Das war ihrem Vater wichtig. Und Ingrid Portenschlager berichtet von ihrem ersten Besuch in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Sie war damals neun Jahre alt. Ihr Vater verriet ihr nicht, warum sie dort waren. Was er damit meinte, als er auf eine Stelle zeigte und ihr sagte „dort haben sie mich aufgehängt“, würde sie erst Jahre später verstehen.
Wertvoller als jedes Geschichtsbuch
Es sind diese Geschichten, die die Schüler an der Weidener Gustl-Lang-Schule berühren. Lehrerin Ursula Soderer hat Ingrid Portenschlager dorthin eingeladen, um den Schülern ein besseres Verständnis der Gräueltaten der Nationalsozialisten zu geben. Die Schüler sind sich einig – Ingrid Portenschlagers Worte haben eine große Wirkung. Die Geschichte ihres Vaters so intensiv zu erfahren, ist völlig anders, als von den Konzentrationslagern nur im Geschichtsbuch zu lesen.
Genau das ist das Ziel des Vereins lila Winkel. Deshalb sind seine Mitglieder seit mittlerweile mehr als 20 Jahren in Schulen unterwegs, und haben mit tausenden Schülern gesprochen. Anfangs waren es noch direkte Zeitzeugen, die den Schülern von ihrem Schicksal berichteten. Heute sind es ihre Kinder, Zeitzeugen der zweiten Generation, die ihre Geschichten weitertragen – damit sie nicht vergessen werden und damit sie dabei helfen können, zu vermeiden, dass solche Verbrechen jemals wieder passieren.
(sb)